Berichte

 

Journée Française: Visite d´une conteuse

«Est-ce que vous parlez aussi allemand, madame?» Das fragte eine mutige Schülerin der 6. Klasse die Conteuse Mme Bouin kurz vor Beginn ihrer Erzählveranstaltung in perfektem Französisch. Die freundliche Antwort: «Oui… un petit peu». Das Mädchen sah etwas verängstigt aus. Sie spricht nur ein bisschen Deutsch? Werde ich sie überhaupt verstehen? Nach einem knappen Schuljahr Französischunterricht? 

Am 5.Juli 2023 besuchte uns Mme Catherine Bouin, professionelle französische Märchenerzählerin und inzwischen langjährige Freundin unserer Fachschaft, wieder einen ganzen Vormittag lang. Und wirklich alle lauschten gefesselt ihren Erzählungen. Dass es ihr in unserer zunehmend medial geprägten Zeit immer wieder gelingt, Schülergruppen aller Altersstufen in den Bann ihrer Geschichten zu ziehen, liegt nicht nur an den klug ausgewählten Geschichten selbst, sondern ebenso  an der charismatischen Ausstrahlung, der klaren Aussprache und der Fähigkeit der Conteuse, sich auf das jeweilige Sprachniveau ihres jungen Publikums einzustellen. Und natürlich am Einsatz ihrer lebendigen, ausdrucksstarken Mimik und Gestik - und sogar ihrer Zeichentalente.  

Mme Bouin sagt, dass sich Menschen aller Regionen und Kulturen seit Anbeginn der Menschheit Geschichten erzählen. Diese Geschichten handeln letzten Endes immer von den großen Themen, die uns alle betreffen und erzielen darum eine verbindende Wirkung – und die kann sich auch an einem etwas regnerischen Sommertag in einem prosaischen Mehrzweckraum entfalten. 

Die jüngeren Kinder lässt sie die jeweilige Geschichte mit Hilfe der Französischlehrkräfte immer gleich in deutscher Sprache nacherzählen, was hervorragend funktioniert und auch denjenigen Mut machen soll, die sich nicht sicher sind, ob sie alles verstanden haben. 

Aber worum geht es? 

Natürlich um die Liebe! Wie gelingt es der treuen Ehefrau, ihren in einem hohen Turm auf Lebenszeit gefangenen Mann zu befreien? Was kann der einfache Bauer tun, um die ihn liebende Königstochter auch gegen den Willen deren reichen und mächtigen Vaters für sich zu gewinnen?  

Es geht um das wankelmütige Glück und wie man es findet – oder auch, wenn man ein imbécile, ein Dummkopf ist, verliert, selbst wenn es buchstäblich vor einem auf der Straße liegt. Wie nahe Glück und Leid manchmal beieinanderliegen, das kann auch der Besitzer eines kostbaren Pferdes erfahren. 

Um die Klugheit – wie überlistet der arme Bauer den mächtigen König? Wie sichert sich ein Sohn das Erbe seines Vaters mit Hilfe einer einfachen Kerze? Wie macht man sich einen kleinen Käfer und einen dünnen Faden zunutze, um einem Gefangenen in die Freiheit zu verhelfen? Wie teilt ein Vater eine Herde von 17 Kamelen gerecht unter drei Söhnen auf?  Wie rächt man sich an der Frau, von der man betrogen wurde? Wie schafft man es, den letzten Schokoladenkuchen nicht mit dem Ehepartner teilen zu müssen? 

Aber auch um die Dummheit, die leicht dazu führen kann, dass man sich alles Hab und Gut und selbst die Ehefrau am helllichten Tage von einem Dieb stehlen lässt, die schöne Frau, die einen heiraten möchte, einfach abweist oder aus lauter blindem Gottvertrauen nicht in das rettende Boot steigt. 

Und immer betont Madame Bouin, dass man all ihre mit lebendigen, facettenreichen Figuren (das verfressene Ehepaar, der listige kleine Junge, der weise alte Mann) und zahlreichen Tieren (ein abgemagerter Wolf, ein Honig liebender Skarabäus, eine Kamelherde) bevölkerten Geschichten auf vielen verschiedenen Ebenen verstehen kann. Obwohl sie meist eine Moral (man muss sein Glück beim Schopfe packen) oder eine Botschaft (die Person ist wichtiger als ihre Erscheinung) in sich tragen, genügt es auch, sich einfach an einer spannenden und unterhaltsamen Handlung zu erfreuen. 

Aber während der 45 Minuten mit ihr muss nicht nur zugehört werden – es gilt auch, mehr oder weniger knifflige Rätsel zu lösen, was an diesem Tag immer gelang. Hier nur einige ins Deutsche übersetzte Kostproben – viel Spaß beim Raten: 

  • Es gibt sieben davon. Wenn einer kommt, geht der andere. 
  • Er spricht nicht, er singt nicht. Aber er sagt immer die Wahrheit. 
  • Das Haus ist außen grün und innen rot. Seine Bewohner sind schwarz. 
  • Er hat einen Hut, aber keinen Kopf. Er hat einen Fuß, aber keine Schuhe.

Ganz nebenbei und spielerisch erweitert man dabei seinen Wortschatz – vor allem jedoch taucht man an einem ganz gewöhnlichen Schultag in fremde, bunte, manchmal alltägliche, vertraut erscheinende, viel öfter aber in ferne und exotische Welten ein. 

Und auch das kleine Mädchen von vorhin bestätigt am Ende ihrer séance mit strahlendem Gesicht, dass sie alles verstanden hat. Welch ein Erfolgserlebnis! 

Wir danken Mme Bouin sehr herzlich und freuen uns schon jetzt auf ein Wiedersehen im nächsten Schuljahr.  

Sibylle Haslinger für die Fachschaft Französisch

 

[Lösungen: die Tage der Woche, der Spiegel, die Wassermelone, der Pilz]